Sterbehilfe

Sterbehilfe   Passive Sterbehilfe   Aktive (direkte) Sterbehilfe   Indirekte Sterbehilfe   Terminale Sedierung   Beihilfe zum Suizid   Sterbehilfeverein Dignitas   In der Grauzone   Streit um Sterbehilfe   Das letzte Tabu   Dignitas  

Sterbehilfe

aus Wikipedia

Sterbehilfe beziehungsweise Euthanasie (von griechisch euthanasía - guter oder schöner Tod) ist für die Historiker ein Begriff aus der Zeit des Nationalsozialismus, für Mediziner sind es dagegen Eingriffe, die das Sterben von Patienten beschleunigen. Euthanasie in diesem Sinne bezieht sich nicht nur auf "unheilbar Kranke", zumeist Patienten mit Krebs-Erkrankungen, sondern auch um Menschen mit schweren Behinderungen, beispielsweise anenzephale Neugeborene, Menschen im Wachkoma oder Patienten mit Alzheimerscher Demenz im fortgeschrittenen Stadium. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Sterbehilfe aus medizinischer Sicht.

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Sterbehilfe bedeutet, den Tod eines Menschen durch medizinische Behandlungen herbeizuführen, zu erleichtern oder nicht aufzuhalten. In der medizinischen und juristischen Diskussion wird dabei zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe unterschieden, wobei sich beide Formen nicht immer klar voneinander unterscheiden lassen. Aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen, ist in Deutschland verboten, in Belgien und den Niederlande ist sie dagegen erlaubt. In der Schweiz und im US-Bundesstaat Oregon ist der sogenannte ärztlich unterstützte Suizid ("physician assisted suicide") erlaubt. In Deutschland steht die Beihilfe zum Suizid nicht unter Strafe. Allerdings stehen in Deutschland Wirkstoffe wie Natriumpentobarbital, die z.B. in der Schweiz zum Suizid eingesetzt werden, auf der Liste der verschreibungspflichtigen Betäubungsmittel (die so genannte Betäubungsmittelverschreibungs-Verordnung) und dürfen daher nur in begrenzten Mengen für bestimmte Zwecke verordnet werden. In England wiederum ist auch die Beihilfe zum Suizid strafbar. In den westlichen Industriegesellschaften ist Sterbehilfe und wie weit sie erlaubt werden soll ein Thema, über das sehr kontrovers diskutiert wird. Außer manchen religiösen Gruppen und Kirchen, sind vor allem Behindertenorganisationen gegenüer Sterbehilfe im allgemeinen sehr kritisch eingestellt.

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Passive Sterbehilfe

Unter passiver Sterbehilfe wird das Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen verstanden. Darunter fällt:

  • Verzicht auf Beatmung oder Intubation
  • Verzicht auf Dialyse
  • Verzicht auf Reanimation
  • Verzicht auf künstliche Ernährung, Flüssigkeitszufuhr oder Medikamente. Mit der Frage, welche Medikamente einem Sterbenden zur Linderung seiner Symptome verabreicht werden sollten und wieviel Ernährung und oder Flüssigkeit er braucht um nicht zu leiden, beschäftigt sich die Palliativmedizin.

Die passive Sterbehilfe beim todkranken Patienten oder auf Wunsch eines aufgeklärten Patienten ist nicht strafbar.

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Aktive (direkte) Sterbehilfe

Unter aktiver Sterbehilfe wird das aktive Herbeiführen des Todes eines unheilbar kranken oder schwerbehinderten (z.B. im Wachkoma lebenden)Menschen verstanden. Darunter fällt:

  • Überdosis an Schmerz- und Beruhigungsmitteln
  • Überdosis an Narkosemittel
  • Kaliuminjektion (Calcium)

Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland strafbar und wird als "Totschlag auf Verlangen" (§ 216 Strafgesetzbuch), oder als "Totschlag" (§ 212 Strafgesetzbuch) geahndet. Nach der neueren Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofes ist allerdings die Gabe einer tödlich wirkenden Schmerzmedikation nicht strafbar, vorausgesetzt Ziel der Medikation ist die Schmerzbekämpfung und die beschleunigte Herbeiführung des Todes ist nur eine Nebenwirkung. Unter Palliativmedizinern ist allerdings umstritten, ob solche Konstellationen im klinischen Alltag eine Rolle spielen oder ob es sich hier nicht doch nur um verdeckte Tötung auf Verlangen (oder auch auf nur gemutmaßtes Verlangen hin) handelt.

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Indirekte Sterbehilfe

Unter indirekter Sterbehilfe versteht man die Inkaufnahme einer möglichen Lebensverkürzung zugunsten einer ausreichenden Schmerzbehandlung. Es handelt sich hier um eine Fallgruppe der aktiven Sterbehilfe. Bei korrekter Dosierung der Schmerzmittel kommt die indirekte Sterbehilfe selten vor. Die Schmerztherapie hat nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu erfolgen, muss nachvollziehbar sein und dokumentiert werden. Die Nichtverabreichung notwendiger starker Schmerzmittel mit der Begründung, keinen vorzeitigen Tod herbeizuführen, ist unärztlich und kann sogar wegen der nicht ausreichend behandelten Schmerzen als Körperverletzung (§§ 223 bis 233 Strafgesetzbuch) oder Unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Strafgesetzbuch) geahndet werden (siehe auch Palliative Schmerztherapie).

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Terminale Sedierung

Unter der terminalen Sedierung versteht man die medikamentöse Einleitung eines Komas bzw. der Bewusstlosigkeit bis zum Eintreten des Todes. Schon heute werden in einigen deutschen Kliniken Todkranke in ihren letzten Lebenstagen auf eigenen Wunsch mit Schmerzmitteln in hohen Dosen betäubt, bis sie sterben. Die rechtliche Grundlage der terminalen Sedierung ist in Deutschland fallabhängig.

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Beihilfe zum Suizid (assistierter Suizid)

Eine weitere Art der Sterbehilfe ist die Beihilfe zum Suizid. Hierbei verabreicht der Arzt ein tödliches Medikament nicht selbst. Das Medikament wird dem Patienten lediglich beschafft und dieser nimmt es selbstständig ein. Es handelt sich also beim assistierten Suizid nicht um aktive Sterbehilfe. Der Ausdruck der Beihilfe ist allerdings nicht im Sinne einer strafbaren Beihilfe nach deutschem Recht zu verstehen. Denn § 27 I StGB verlangt für Beihilfe eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Haupttat, und Suizid selbst ist mangels eines entsprechenden Tatbestands nicht rechtswidrig. Ludwig Minelli, Generalsekretär des in Deutschland umstrittenen Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas, kritisiert, dass der Kranke bei assistiertem Suizid wie er in Deutschland praktiziert wird, anders als in der Schweiz, beim Sterben alleingelassen wird. Der Arzt darf dem sterbewilligen Patienten die tödliche Medikamentendosis zwar beschaffen, muss dann aber den Raum verlassen, um sich nicht der unterlassenen Hilfeleistung, bzw. der Verletzung seiner Garantenpflicht schuldig zu machen. Die deutschen Gesetze, so Minelli, würden "menschenunwürdige Bedingungen" schaffen.

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Lange ist es still gewesen um das Thema Sterben. Das hat sich mit einem Schlag geändert, als der Schweizer Sterbehilfeverein Dignitas vor wenigen Wochen in Hannover seine erste deutsche Filiale eröffnete. Umfragen zufolge sieht eine Mehrheit der Deutschen diese Entwicklung positiv. Entsprechend scharf wird über Hospize, Schmerztherapie und Patientenverfügungen diskutiert und gestritten.

Holland und Belgien sind sehr umstrittene Vorreiter

In der Debatte um einen menschenwürdigen Tod ist Sterbehilfe nicht die einzige Antwort - Hospizstiftung für bessere Sterbebegleitung

Deutschland debattiert über die Sterbe-hüfe. In den Niederlanden, der Schweiz und Belgien ist Euthanasie unter bestimmten Bedingungen bereits erlaubt. Österreich geht einen anderen Weg.

Von Barbara Thurner-Fromm und Bärbel Krauß

Die Niederlande gelten in vielerlei Hinsicht als besonders liberal. So verwunderte es vor drei Jahren auch nicht, dass sie das erste Land weltweit waren, das Ärzten erlaubte, unheilbar kranke und leidende Menschen zu töten, wenn die Betroffenen darum gebeten hatten. Natürlich war das Thema Euthanasie auch in den Niederlanden umstritten; doch wurde das Gesetz von vielen Menschen lediglich als Legalisierung einer bereits gängigen Praxis empfunden. So hatte im Jahr 2000 die Gesellschaft für freiwillige Euthanasie 2123 Fälle von Sterbehilfe registriert - wobei die Organisation zusätzlich von einer extrem hohen Dunkelziffer ausgegangen war.

Das neue Gesetz legte nun erstmals die Bedingungen fest, unter denen Sterbehilfe erlaubt war: Arzt und Patient müssen überzeugt davon sein, dass ein Tod unter Qualen bevorsteht; ein zweiter Facharzt muss konsultiert werden, und im Nachhinein muss ein Fachgremium überprüfen, ob die Beteiligten während dieses ganzen Prozesses die notwendige Sorgfalt walten ließen. Bei Zweifeln muss die Prüfkommission die Staatsanwaltschaft einschalten. Anfang des Jahres wurde bekannt, dass die Sterbehilfe auch bei unheilbar kranken Babys praktiziert wurde. In einer Fachzeitschrift wurden 22 Fälle seit 1997 aufgelistet; alle Babys litten an schwerer Spina bifida, einem offen liegenden Rückenmark mit massiven Nebenbehinderungen.

Im Jahr 2002 hat auch Belgien die Sterbehilfe legalisiert. Eine Tötung auf Verlangen ist seither auch dann straffrei, wenn unheilbar kranke Patienten nicht in absehbarer Zeit sterben. Zudem dürfen auch Menschen mit andauernden psychischen Leiden auf ihren Wunsch hin getötet werden. Der Sterbewunsch kann entweder schriftlich oder auch mündlich erklärt werden; es kann aber kein Arzt und auch sonst niemand dazu gezwungen werden, diesen Wunsch auch zu erfüllen. Ist die Krankheit noch nicht in ihrem Endstadium, muss ein zweiter Arzt hinzugezogen werden. Und zwischen der Bitte um Sterbehilfe und der Ausführung muss mindestens ein Monat vergehen. Die Erweiterung auf psychische Leiden ist dagegen äußerst umstritten, weil etwa Depressionen die Todessehnsucht befördern, also Teil eines Krankheitsbilds sind, das den freien Willen eines Menschen einschränken kann. Sowohl in Holland als auch in Belgien steigen die Zahlen der Sterbehilfe seit der Legalisierung kontinuierlich. Laut offiziellen Zahlen, über die das „Deutsche Ärzteblatt" im September berichtete, leisten belgische Ärzte im Schnitt 30 Mal im Monat Sterbehilfe, das seien jeweils rund zehn Fälle mehr als noch vor drei Jahren. In Holland wachsen allerdings Kritik und Zweifel, ob angesichts der steigenden Fallzahlen wirklich jeweils ausschließlich der Wunsch des Patienten das Maß aller Aktivitäten war.

In der Schweiz ist aktive Sterbehilfe zwar verboten, passive Sterbehilfe aber wird offen diskutiert und praktiziert. Der Verein Dignitas etwa stellt in seiner Jahresbilanz 2003 fest, er habe 100 seiner Mitglieder beim „Freitod begleitet", 45 davon aus der Bundesrepublik. In keinem Fall habe es Beanstandungen seitens der Behörden gegeben. Seit 2001 ist die Organisation sogar in Alten- und Pflegeheimen der Stadt Zürich zugelassen. Dass die Legalisierung aktiver Sterbehilfe in Deutschland wieder zum Thema geworden ist, hält Eugen Brysch, der Geschäftsführer der Deutschen Hospizstiftung, für eine „Scheindiskussion". Das eigentliche Problem liegt in seinen Augen darin, dass Sterbende in der Bundesrepublik nicht gut genug versorgt sind und dadurch die Angst vor Pflegebedürftigkeit im Alter wächst. Von 850 000 Sterbenden und Schwerstkranken werden nach seinen Angaben nur 4,1 Prozent in ehrenamtlich betriebenen Hospizen und zwei Prozent in Einrichtungen mit intensiver Schmerztherapie betreut. Das will der Verbandschef ändern. Er ist überzeugt davon, dass die Zustimmung zu Sterbehilfe sinkt, wenn die Versorgung deutlich verbessert wird.

Dabei stützt sich Brysch auch auf eine aktuelle Umfrage. Die Zustimmung zu aktiver Sterbehilfe ist demnach gering, wenn die Befragten über die Möglichkeiten intensiver Sterbebegleitung und Palliativmedizin aufgeklärt werden. Bei der Befragung bevorzugten 56 Prozent Schmerzmedizin und Hospizarbeit vor Sterbehilfe (35 Prozent). Allerdings könnten nur drei Prozent etwas mit dem Wort Palliativmedizin anfangen, sagt Brysch.

Auch die Österreicher haben auf die Diskussion über Sterbehilfe reagiert - mit einer humanen Antwort: Seit 2002 gilt dort das Gesetz zur „Sterbekarenz". Angehörige von Sterbenden haben dort seither einen Rechtsanspruch, wegen der Pflege dieser Menschen von heute auf morgen auf Teilzeitarbeit zu wechseln oder sich bis zu einem halben Jahr beurlauben zu lassen - mit Jobgarantie.

aus: Stuttgarter Zeitung vom 21.10.2005

In der Grauzone

Die Sterbehilfe ist im deutschen Recht nicht vorgesehen

VON MATTHIAS RUCH

So umstritten die Probleme rund um die Sterbehilfe unter Medizinern, Juristen und Philosophen auch sind, in einem sind sie sich einig: Die Rechtspraxis wird der Realität auf Intensivstationen und in Pflegeheimen immer schwerer gerecht. Die Fähigkeit der modernen Apparatemedizin, Todgeweihte lange am Leben zu halten, hat juristische Probleme geschaffen, die dem Gesetzgeber früher nicht bewusst waren. Anders als in den Niederlanden ist die Sterbehilfe hierzulande gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Die Mord-und Totschlagparagrafen 211 und 212 des Strafgesetzbuches sind für diese Fälle nicht konzipiert, und auch der Paragraf 216, der die Tötung aufVerlangen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren bedroht, deckt die Problematik nicht ab. Offiziell wird die aktive Sterbehilfe von Politikern und Verbänden vehement abgelehnt, während deren passive Form ebenso wie die indirekte Sterbehilfe auch in Deutschland weitgehend akzeptiert ist. Dpch die juristischen Abgrenzungen zwischen „Tun und Unterlassen", Wollen und Inkaufnehmen" verschwimmen tagtäglich im Graufeld der Praxis.

Eindeutig ist die Rechtslage nur bei der passiven Sterbehilfe, also dem Unterlassen lebensverlängernder Maßnahmen: Wenn der Patient ausdrücklich verlangt, eine Behandlung einzustellen oder gar nicht erst zu beginnen, muss der Arzt diesem Willen folgen. Schwieriger sind jene Fälle, in denen Patienten - wie zum Beispiel Walter K. - erklärungsunfähig sind. Hat der Sterbevorgang bereits eingesetzt, gestattet der Bundesgerichtshof den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen wie Beatmung, Bluttransfusion oder künsdiche Ernährung. Könnte der erklärungsunfähige Patient aber noch längere Zeit leben, etwa beim apallischen Syndrom, ist sein mutmaßlicher Willen zu berücksichtigen.

Die Frage ist: Wer ermittelt diesen mutmaßlichen Willen? Dabei stützt sich der Bundesgerichtshof (BGH) auf Paragraf 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der sich auf lebensgefährdende Eingriffe bezieht. Er verlangt neben der Einwilligung des Betreuers zusätzlich die Genehmigung durch ein Vormundschaftsgericht. Diese Regelung wendet der BGH analog auch auf lebensbeendende Maßnahmen an. Den mutmaßlichen Patientenwillen müssen also sein Betreuer und das Gericht ermitteln. Liegt kein Patiententestament Vor, sind dazu mündliche Äußerungen und religiöse Überzeugungen heranzuziehen. Diese Auslegung des BGH ist allerdings für die Amtsrichter im Einzelfall nicht verbindlich.

Anders als bei der passiven verabreicht der Arzt bei der indirekten Sterbehilfe Schmerzmittel, die den Todeseintritt beschleunigen können. Die Zulässigkeit dieser Vergabe hat der Bundesgerichtshof 1996 erstmals bestätigt: „Eine ärztlich gebotene schmerzlindernde Medikation entsprechend dem erklärten oder mutmaßlichen Patientenwillen wird bei einem Sterbenden nicht dadurch unzulässig, dass sie als unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene unvermeidbare Nebenfolge den Todeseintritt beschleunigen kann."

Für das Strafrecht bedeutsam ist in diesen Fällen der Vorsatz des Arztes. Gibt er beispielsweise Morphine zur Schmerzlinderung, selbst wenn er sicher weiß, dass der Patient dadurch früher stirbt, geht er straflos aus. Verabreicht er allerdings dieselbe Dosis in der Absicht, den Tod des Leidenden herbeizufuhren, macht er sich strafbar.

Der wahre Vorsatz eines Arztes lässt sich jedoch nur schwer ermitteln. Die Unterscheidung zwischen der erlaubten indirekten Sterbehilfe und der verbotenen aktiven Tötung verschwimmt daher in der Praxis nur allzu oft. Ähnliches gilt für das Abschalten einer Maschine zum Unterlassen der Weiterbehandlung: Während der BGH dies als passive Sterbehilfe interpretiert, sehen Rechtsdogmatiker darin ein aktives Tun. Und auch bei der - grundsätzlich straflosen - Beihilfe zur Selbsttötung verwischen die Grenzen zwischen Suizidteilnahme und Tötung auf Verlangen. Wer Gift lediglich beschafft, ist straflos, wer es verabreicht, wird bestraft.

Mit verschiedenen Ansätzen wurde in den vergangenen Jahren versucht, den juristischen Nebel zu lichten. Einzelne Gerichte gingen in der Interpretation dessen, was noch als zulässige Sterbehilfe gilt, sehr weit. Das Rechtsklima haben sie damit jedoch nicht verändert. Mediziner und Juristen legten Alternativentwürfe zu Paragraf 216 vor, aber aus Berlin sind konkrete Gesetzesänderungen derzeit nicht zu erwarten. Daher versuchen andere, den Anwendungsbereich des Paragrafen 216 einzuschränken oder die Sterbehilfe über die Notstandsregelung 34 zu rechtfertigen, die besagt, dass man in ein Rechtsgut eingreifen darf, um ein höherrangiges zu schützen. Dazu müsste kein Gesetz geändert werden.

Der Rechtsstreit schwelt. Eine verbindliche Entscheidung kann nur der Gesetzgeber oder das Bundesverfassungsgericht herbeiführen. Doch bislang haben sich die Karlsruher Richter nicht geäußert.

Unter www.zeit.de/2001/17/sterbehilfe finden Sie weitere Informationen zum Thema und zur aktuellen Debatte.

aus DIE ZEIT Nr.17 vom 19.April 2001

Streit um Sterbehilfe

In Würde gehen

Von Barbara Thurner-Fromm

Es ist schon seltsam: Da kommt ein kleiner Verein aus der Schweiz und mietet in Hannover ein Büro an, von dem aus er Menschen helfen will, aus dem Leben zu scheiden - und plötzlich diskutiert ein ganzes Volk über Sterbehilfe. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen. Erstens: der Sterbeverein hat eine glänzende Werbekampagne für ein fragwürdiges Anliegen gestartet. Zweitens: die Resonanz belegt, dass viele Menschen umtreibt, ob in unserem Land ein selbstbestimmtes Lebensende und ein menschenwürdiges Sterben möglich sind. Da schwingen Zweifel und Ängste mit, die man ernst nehmen muss.

Der neue Bundestagspräsident Norbert Lammert hat sich dafür ausgesprochen, die Debatte um eine Leitkultur wieder aufzugreifen. Die Frage der Sterbehilfe böte sich an. Es würde sich lohnen, darüber zu reden, welche Kultur des Sterbens dieses Land möchte. Denn die Zeiten, da sich solche Fragen durch feste religiöse und weltanschauliche Fundamente quasi von selber beantworteten, sind vorbei. In unserer liberalen und sich vereinzelnden Gesellschaft muss ein ethischer Konsens gefunden werden. Eine solche Debatte gehört aber nicht in die Talkshows, sondern in das Parlament.

Die Diskussion ist notwendig, weil zwischen den Möglichkeiten der Hochleistungsmedizin und einer vergreisenden Gesellschaft ein Spannungsverhältnis entstanden ist. Auf der einen Seite beklagen viele alte Menschen, dass sie sich wertlos vorkommen, abgeschoben in Heime, kategorisiert nach Schadensklassen und Kostenfaktoren. Sie werden gepflegt und versorgt, satt und sauber gemacht, aber sie fühlen sich nicht angenommen in ihren elementaren Bedürfnissen nach menschlicher Wärme und persönlicher Zuwendung. Auf der anderen Seite gibt es die vielfache Erfahrung, dass auch verlöschendes Leben mit allen medizinisch-technischen Möglichkeiten verlängert wird, ohne Aussicht auf Besserung, ohne Chance auf wahrnehmbare Lebensqualität. 'Die Bitte „Lass mich nicht allein" ist so ernst zu nehmen wie die Bitte „Lass mich nicht endlos an Maschinen hängen. Wenn ich für mich alle Hoffnung fahren lasse oder nicht mehr selber entscheiden kann, dann lass mich gehen".

Angesichts dieses schwierigen Spannungsverhältnisses stehen Ärzte täglich in der Verantwortung gegenüber dem Patienten. Sie stehen gleichzeitig auch unter dem Druck des Strafgesetzbuchs, wenn der Wille des Betroffenen nicht eindeutig und schwarz auf weiß belegt werden kann; oft müssen sie in einer Grauzone handeln. Eines dürfen sie freilich nicht: aktive Sterbehilfe leisten. Denn sie haben den hippokratischen Eid geschworen: „Ich werde niemandem, nicht einmal auf ausdrückliches Verlangen, ein tödliches Medikament geben, und ich werde auch keinen entsprechenden Rat erteilen."

Man mag einwenden, dass sich Hippokra-tes vor rund 2500 Jahren nicht hat träumen lassen, zu welchen Möglichkeiten der Lebensverlängerung sich die Medizin emporschwingen würde. Das ist wohl wahr, die ethische Kernaussage aber ist unverändert richtig: Ein Arzt soll dem Menschen helfen zu leben und in Würde zu sterben - er soll aber niemandem den Giftbecher reichen. Die Bundesärztekammer hat sehr lesenswerte Grundsätze zur Sterbebegleitung verfasst, die Spielraum geben für den oft sehr schwierigen Einzelfall, aber auch klare generelle Handlungsaufträge für ein menschenwürdiges Sterben: Schmerzen und Leiden lindern, Beistand leisten, wahrhaftig sein gegenüber dem Sterbenden' und in jeder Phase ihm zugewandt. Ärztliche Entscheidungen, so heißt es ausdrücklich, dürfen nicht von wirtschaftlichen Erwägungen abhängig gemacht werden. Das ist in der Tat eine unverzichtbare Voraussetzung für Menschenwürde.

Es ist noch gar nicht so lange her, da haben sich deutsche Ärzte zu Meistern über Leben und Tod aufgeschwungen. Angesichts der historischen Verbrechen im Namen der Euthanasie, des angeblich schönen Todes, dürfen die Nachgeborenen nur eine Antwort geben: Aktive Sterbehilfe muss tabu bleiben. Denjenigen, die nun die Giftspritze als das letzte Maß menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung propagieren, kann man entgegenhalten, dass nur eine verschwindend kleine Zahl tatsächlich getötet werden will.

Dass viele Alte des Lebens überdrüssig sind, dass Sterbenskranke ihren Tod herbeisehnen und beschleunigen wollen, hat viel mit der Lieblosigkeit zu tun, die sie umgibt. Die wahre Herausforderung ist, dass wir einem Jugendwahn huldigen, der Altern, Gebrechlichkeit und Schwäche nicht zulässt -obwohl die Gesellschaft massiv vergreist. Dass wir alle Karten auf den medizinischen Fortschritt setzen, obwohl letztlich das Leben endlich bleibt. Und dass wir die Sterbenden in sterile Krankenzimmer und einsame Pflegebetten am Flurende abschieben. Doch die Menschen sterben mitten unter uns.

aus Stuttgarter Zeitung vom 24.10.2005

Das letzte Tabu

Aktive Sterbehilfe ist manchmal der einzige Ausweg – erlaubt werden darf sie dennoch nicht

Von Robert Leicht

Was ist menschliches Leben, wann und wie endet es wirklich? Und wer dürfte, da das menschliche Leben doch als sakrosankt, als unverfügbar gilt, darüber verfügen – selbst im Angesicht unerträglichen Leidens, des nahen Todes oder im Abgrund aussichtslos erscheinender Verzweiflung? Je gründlicher man über diese Fragen nachdenkt, desto schwerer fallen einfache Antworten. Das gilt erst recht angesichts der modernen lebensverlängernden Apparatemedizin, die – Segen und Fluch zugleich – in bisher ungekannte Dilemmata führt. Desto weniger überzeugen heute schlichte Lösungen und platte Parolen, zum Beispiel die gegenwärtig diskutierte Forderung »Erlaubt endlich die aktive Sterbehilfe!«. Oder die Erwartung, dass Vereine zur Unterstützung der Selbsttötung wie der Schweizer Verein Dignitas sich mit staatlicher Lizenz betätigen können.

Weil es in der Vorhalle – und für schwer Leidende: in der Vorhölle – des Todes keine simplen Wahrheiten gibt, kann man weder das eine noch das andere ausschließen: weder den extremen Ausnahmefall, in dem es dann doch schwer fällt, einen Menschen zu verurteilen, der einen Mitmenschen bewusst vom Leiden zum Tode befördert, noch die Möglichkeit, dass man selbst in eine Lage geraten könnte, in der man sich nichts anderes wünscht, als nur noch zu sterben, und sei es durch die Hand eines »gnädigen« Arztes. Doch gerade weil es sich dabei um Extremsituationen handelt, verbietet es sich, aus ihnen Regelfälle zu machen. Existenzielle Grenzsituationen sind höchst individuell und konkret, Rechtsnormen aber sind, per definitionem, generell und abstrakt. An den Abgründen, an denen beides besonders wenig zusammenstimmt, schützen wir uns mit Tabus.

Ein Musterfall für den Versuch, ein Tabu juristisch geschickt zu rationalisieren, hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1987 beschäftigt. Eine Frau hatte einen Autounfall erlitten und war seither querschnittsgelähmt. Bis auf Kopf und Mund war sie bewegungsunfähig geblieben. Sie äußerte den Wunsch, ihr Leben zu beenden. Daraufhin ersann der Arzt eine Apparatur, mit deren Hilfe die Frau durch Zungendruck entscheiden können sollte, welche von zwei Flüssigkeiten sie in einen angeschlossenen Tropf fließen lassen wollte: Traubenzuckersaft oder eine tödlich wirkende Narkoselösung.

Bevor der Arzt zu Werke ging, wollte er sich jedoch dagegen absichern, dass ihm seine Approbation entzogen werden könnte. Er zeigte seine Absicht bei der Staatsanwaltschaft an, und zwar in der Erwartung, dass ihm die Behörde – wie alsbald geschehen – in den Weg treten werde und er dann gegen diese Maßnahme Verfassungsbeschwerde einlegen könne. Doch die Richter wiesen diesen Versuch zurück, im Vorwege das Placet für eine aktive Sterbehilfe, genauer: für eine ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung zu erlangen. Dies galt zunächst aus rein prozessualen, schließlich aber auch aus sachlichen Gründen: Es gibt nämlich, sagten die Richter, keinen »verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf aktive Sterbehilfe durch Dritte«. Und folglich könne im Verbot der aktiven Sterbehilfe keine Grundrechtsverletzung liegen, die vor dem höchsten Gericht zu rügen wäre.

Die Frage ist nun, ob umgekehrt das Erlauben der aktiven Sterbehilfe Grundpflichten verletzen würde, vor allem die Pflicht, menschliches Leben zu schützen und als sakrosankt zu behandeln.

Bevor man eine Änderung der Gesetze auch nur bedenkt oder gar die Zulassung der aktiven Sterbehilfe fordert, sollte man sich die Lage der Fälle und des Rechts verdeutlichen. Erste Orientierung bieten Unterscheidungen nach dem Zustand des Patienten, nach der zeitlichen Nähe des vorherzusehenden Todes und nach den rechts-ethischen Grundprinzipien, die gegeneinander abzuwägen sind. Es ist also zu unterscheiden zwischen Patienten, die bei Bewusstsein und körperlich handlungsfähig sind, solchen, die zwar bei Bewusstsein, aber körperlich an der Ausübung ihres Willens gehindert sind, und schließlich solchen Patienten, die das Bewusstsein – und damit die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit – dauerhaft verloren haben.

Auf der Zeitachse ist zu unterscheiden zunächst zwischen einer unheilbaren Krankheit, die irgendwann, aber nicht in absehbarer Zeit unausweichlich zum Tod führen wird, sodann einer aussichtslosen Krankheit, die alsbald zum Tod führen wird, ohne dass der Patient schon im Sterben läge, und schließlich dem Sterben, der Agonie, selbst. Zusätzlich ist an die Fälle zu denken, in denen der Hirntod schon vollends oder der Teilhirntod (»Wachkoma«) eingetreten ist, die Vitalfunktionen des Körpers aber mit maschineller Unterstützung noch länger aufrechterhalten werden können. Schließlich ist an jene Menschen zu denken, die – obschon körperlich durchaus gesund – ihres Lebens unsäglich müde sind, sei es in einer psychischen, vielleicht krankhaften Ausnahmesituation, sei es in der Lage eines »Bilanz-Suizids«, sei es aus jugendlichem Liebeskummer. Und was die rechtsethischen Prinzipien betrifft, so muss die Pflicht, menschliches Leben unbedingt zu schützen, in Übereinstimmung gebracht werden mit der Selbstbestimmung des Patienten, also mit einem Element seiner Menschenwürde. Alle jüngsten Veränderungen in der Rechtsauffassung gehen im Grunde darauf zurück, dass die Selbstbestimmung des Patienten – endlich – viel stärker gewichtet wird.

Wie kann der Patient nun seine Selbstbestimmung in Grenzsituationen wahren? Solange er freiverantwortlich entscheiden kann, kann er jederzeit die Einwilligung in eine Heilbehandlung oder deren Verlängerung verweigern. Um es einfach zu sagen: Niemand ist verpflichtet, zum Arzt zu gehen – oder bei ihm zu bleiben. Der Arzt kann ihm raten, kann ihn aufklären, kann mit ihm diskutieren – an seiner Stelle entscheiden darf er nicht. Es ergeben sich allerdings verschiedene Probleme. Wie stellt sich, erstens, die Lage dar, wenn der Patient seinen Willen nicht mehr äußern kann? Was ist, zweitens, wenn der Patient nicht nur die Fortsetzung der Behandlung verweigert, sondern umgekehrt – und darüber hinaus – sozusagen eine »Behandlung zum Tode« fordert, also die grundsätzlich strafbare Tötung auf Verlangen? Und was gilt, wenn der Patient sich selbst töten möchte und dazu die Beihilfe erbittet?

Wie schon in jenem zitierten Fall, den das Bundesverfassungsgericht abgewiesen hat, liegen in der aktuellen Debatte die Themen »Beihilfe zur Selbsttötung« (assisted suicide) und »Aktive Sterbehilfe« eng beieinander, obwohl sie systematisch voneinander unterschieden werden müssen. Wer einem anderen bei der Vorbereitung des Suizids hilft, bleibt straffrei, solange er nicht selbst die »Tatherrschaft« übernimmt. Inzwischen verlangt die herrschende Rechtsauffassung auch nicht mehr unter Strafandrohung, dass jemand, der Zeuge eines Selbstmordversuchs wird, immer alles unternehmen muss, um den Todeswilligen zu retten, jedenfalls dann nicht mehr, wenn er deutliche Anhaltspunkte für einen freiverantwortlichen Suizid hat, etwa einen eindeutigen Abschiedsbrief vorfindet. Wenn aber ein Mensch diesen qualifizierten Entschluss zum Suizid getroffen hat, soll er dann darauf verwiesen werden, sich auf grausame und quälerische Weise zu töten, sich etwa vor einen Zug zu werfen? Oder muss man ihm nicht andere Wege und Mittel eröffnen, wie sie der Verein Dignitas anbieten möchte? Sowenig sich dieser Gedanke abweisen lässt – will man andererseits aus dieser im Grenzfall akzeptierten Hilfe am Ende ein Gewerbe machen, vor allem ein staatlich beaufsichtigtes (mit Steuerpflicht), denn wie anders wollte man die Ausdehnung dieses Szenarios ins dann nicht bloß Fragwürdige vermeiden?

Hilfe beim Sterben ist streng zu unterscheiden von der Hilfe zum Sterben, also von der Unterstützung beim Suizid oder der aktiven Sterbehilfe. In jüngster Zeit gewinnen die Patientenverfügungen immer mehr an Gewicht, in denen Menschen schon frühzeitig schriftlich festlegen, dass sie für den Fall unumkehrbarer Bewusstlosigkeit den Verzicht auf bestimmte Heilbehandlungen und nur noch leidensmildernde Begleitung beim Sterbenlassen wünschen, also die reine Palliativbehandlung; es handelt sich mithin um einen vorsorglichen Akt der Selbstbestimmung. Solche Dokumente sollen als Hinweis auf den mutmaßlichen Patientenwillen gelten, den der Patient in der konkreten Situation nicht mehr äußern kann. Auch wenn der Arzt schließlich verantwortlich interpretieren und prüfen muss, ob er wirklich in der Situation steht, die von der Verfügung gemeint wurde – die Entwicklung geht eindeutig dahin, solche Patientenverfügungen als verbindlich zu beachten. Aber auch wenn nun selbst der Bundespräsident dafür präzise Regeln fordert: Die Kunst, die letzte Verantwortung des Arztes in einem Gesetz hinwegzuregeln, hat noch keiner erfunden.

Was aber bleibt nun zu regeln – und lässt sich regeln – mit dem Ziel einer Lizenzierung der aktiven Sterbehilfe? Zieht man einen Strich unter die gegenwärtige Rechtslage und Rechtsauffassung, so ergibt sich Folgendes: Wer einem freiverantwortlichen Suizidenten ein weniger grausames Mittel verschafft, ihn also nur unterstützt, handelt straffrei. Wer als Arzt eine Patientenverfügung vorfindet, hat diese ebenso zu beachten wie den absolut verbindlichen Wunsch eines artikulationsfähigen Patienten, eine leidensverlängernde Heilbehandlung abzubrechen. Zudem hat die Rechtsprechung anerkannt, dass kein Arzt verpflichtet ist, verlöschendes Leben um jeden Preis zu verlängern. Er wäre dazu nicht einmal berechtigt, wenn der (mutmaßliche) Patientenwille dem entgegenstünde.

Auch die indirekte Sterbehilfe ist erlaubt, also jene Form der Schmerz- und Leidenslinderung, die in der unvermeidlichen Nebenfolge die Lebenszeit verkürzt. Und schließlich wird die deutsche Ärzteschaft, wenngleich noch zu langsam, sensibler für die Notwendigkeiten und kundiger in den Möglichkeiten der hochwirksamen Schmerztherapie. Die Angst vor dem Tod bleibt, die Angst vor dem Sterben kann deutlicher als bisher gelindert werden. Und erst recht nicht akzeptabel wäre es, die Mühen und Kosten des Ausbaus der Palliativmedizin und der Hospize zu scheuen und sich stattdessen auf die »einfachere« aktive Sterbehilfe zu verlegen, sie gar Patienten als Mittel der Wahl »anzubieten«.

Worum es in der gegenwärtigen Debatte geht, ist also allein dieses: Darf, ja soll der Arzt in bestimmten Situationen vom Heilenden und Lindernden zum unmittelbar Tötenden werden? Erst recht, ohne dass die Möglichkeiten der Palliativmedizin ausgeschöpft wurden? Es mag, wie gesagt, seltene und extreme Situationen geben, in denen man anderen Menschen zu allem Elend nicht auch noch Strafen auferlegen möchte, aber eine Aufhebung des Tötungsverbotes, auch des Verbots der Tötung auf Verlangen als allgemeines Gesetz kann nicht infrage kommen. Gesetze, die im Extremfall und auf dem Papier noch eben vertretbar erscheinen mögen, werden nämlich in der normalisierten Praxis »verschmutzen«; sie werden gröber, auch rücksichtsloser und bestimmt extensiver angewandt als ausgedacht.

Aus der niederländischen Praxis der aktiven Sterbehilfe ist ein Fall zur Prominenz gelangt, in dem ein älterer Herr, der körperlich und physisch gesund war, aber eben nicht weiterleben wollte, von einem Arzt straffrei zum Tode gebracht wurde. Wer solche Weiterungen, also die Auslegung zum erst recht Unvertretbaren hin, nicht provozieren will, muss es bei der gegenwärtigen Gesetzeslage belassen und darauf vertrauen, dass die extremen Grenzfälle einen verständnisvollen, einsichtigen Richter finden, der zwischen der prinzipiellen Rechtswidrigkeit und der persönlichen Schuldhaftigkeit einer Tat immer noch menschlich unterscheiden kann. Denn die Humanität einer Gesellschaft entscheidet sich nicht an der Schleifung des letzten Tabus, im Gegenteil.

aus DIE ZEIT vom 27.10.2005

»Dignitas ist ein diktatorischer Verein«

Die umstrittene Schweizer Sterbehilfeorganisation besteht faktisch nur aus einer Person: Ludwig A. Minelli

Von Urs Willmann

Will Ludwig A. Minelli belegen, dass die Idee von einer Gesellschaft, in der Sterbenskranken ohne juristische Hürden tödliche Cocktails bereitgestellt werden, keine Neuigkeit darstellt, hilft ihm Giacomo Casanova. Der berichtete in der Schrift Über den Selbstmord und die Philosophen, dass »Valerius Maximus zufolge« der Senat von Marseille öffentlich Gift an jene ausgab, »die glaubhaft versichern konnten, dass sie es benötigen«.

Da die Senatoren hierzulande sich gegen diese Abgabe sperren, übernimmt Minelli. Vor kurzem hat der 72-jährige Generalsekretär des Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas eine deutsche Zweigstelle eröffnet. Seither bietet Dignitas auch in Hannover seine umstrittenen Dienste an. Für einen Betrag ab 3000 Schweizer Franken erhält der Betroffene ein One-Way-Ticket in die Schweiz, eine tödliche, vom Arzt verschriebene Dosis Natrium-Pentobarbital (15 Gramm), etwas Betreuung. Die Wohnung zum Jenseits befindet sich in Zürich. Dort ist eine Kamera installiert, damit man den freiwilligen Akt filmen kann – zur juristischen Absicherung. Eigenhändig führt der Sterbewillige das Giftglas zum Mund.

Unter den 5000 Mitgliedern von Dignitas sind mehr Deutsche als Schweizer. Von den rund 450, denen der Verein in den sieben Jahren seit seiner Gründung beim Suizid assistierte, reisten mehr als die Hälfte von Deutschland aus in die Schweiz. Auch die Zweigstelle in Hannover ermöglicht nicht, das Diesseits hierzulande zu verlassen. Die Mitwirkung an Selbsttötungen, und sei es durch Ausstellen eines Rezepts, gilt unter deutschen Medizinern als unethisch. Trotzdem ist das Entsetzen darüber, dass der Schweizer Hilfeleister nach Deutschland expandiert, groß. »Wir wollen bei uns kein Reisebüro des Todes«, empörte sich die niedersächsische Justizministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU).

Minelli hat damit erreicht, was er beabsichtigt: Wirbel. Dass Heister-Neumann ein Verbot des Vereins erwirken will, kann ihm nur Recht sein. »Bis zum Verfassungsgericht und zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte« will er gehen, wenn ihn hier einer ausbremsen will. Schlagzeilen in eigener Sache zu machen ist eine Spezialität von Ludwig Amadeus Minelli. Als Journalist oder auch als Talkshowgast zog er in der Vergangenheit kräftig vom Leder. Mit der ZEIT spricht er seit einem kritischen Kommentar nicht mehr.

Mit 54 Jahren wurde der Journalist auch Rechtsanwalt. Fühlt er sich von Sterbehilfegegnern provoziert, scheut Minelli bis heute vor groben Attacken nicht zurück: »Deren Schuld ist ähnlich wie die von verblendeten Nazis.« Die feine Klinge führt er dagegen als Experte in Sachen Rechtsprechung. Die Arbeit rund ums Sterben hat er geschickt organisiert. So verlässt er stets rechtzeitig den Ort des Geschehens – für das Sterbebegleiten hat er seine ehrenamtlichen Sterbehelfer. Selbst konzentriert er sich auf seine Funktion als Generalsekretär: »Man muss die Führung vom Operativen trennen.«

Für diese Konstellation gibt es delikate juristische Gründe. Sterbehelfer dürfen bloß Spesen verrechnen. Ließen sie sich Honorare auszahlen und würden damit einen persönlichen Vorteil aus dem Ableben eines »Patienten« ziehen, riskierten sie, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren droht Artikel 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches. Deshalb betonen die Faltblätter von Dignitas die Ehrenamtlichkeit ihrer Sterbehelfer. Da diese für ihre Tätigkeit nicht bezahlt würden, »kann von selbstsüchtigen Motiven keine Rede sein. Dignitas arbeitet auf einer einwandfreien gesetzlichen Grundlage.«

Für sich selbst aber hat Minelli ein besseres Anstellungsverhältnis arrangiert: Indem er die unmittelbare Hilfe beim Sterben anderen überlässt, darf er sichdie eigene Arbeit als angestellter Generalsekretär sehr wohl honorieren lassen. Geschickt hat er bei der Gründung von Dignitas einen Verein gestaltet, der Möglichkeiten bietet, Geld zu verdienen, ohne sich strafbar zu machen.

Beim Abfassen der Statuten im Mai 1998 stieß er im Schweizerischen Zivilgesetzbuch auf die Möglichkeit einer »statuarisch stimmrechtslosen Mitgliedschaftskategorie«. Nach dieser Kategorie hat er seinen Verein konstruiert. Keiner funkt dazwischen, denn Mitspracherecht genießen nur Aktivmitglieder. Als solche setzte er damals zwei Personen ein: sich selbst und eine seiner Töchter.

Vater Minelli und Tochter Minelli ernannten daraufhin den Generalsekretär Minelli. Und der genießt fast uneingeschränkte Vollmachten: Als »leitendes Organ« entscheidet er über »die Aufnahme von Mitgliedern aller Kategorien«. Er kann Aspiranten »ohne Angaben von Gründen« ablehnen und Mitglieder aus dem Verein werfen. So ist, wer im Minelli-Verein Mitglied wird, bloß ein so genanntes »Destinatärmitglied«. Er hat lediglich Anrecht auf eine Dienstleistung – die Hilfe beim Selbstmord. Unumwunden räumte Minelli einst ein: »Dignitas ist ein diktatorischer Verein.«

Dass er von der Arbeit bei Dignitas auch finanziell profitiert, bestreitet Ludwig Minelli nicht. Allerdings weist er den Vorwurf zurück, dass es sich dabei um hohe Summen handele. Wie viel er als Generalsekretär tatsächlich verdient, sagt er nicht.

aus DIE ZEIT vom 27.10.2005