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Beobachtung - Das Ehepaar

Es ist Zeit zum Abendessen. Beide betreten den großen Essraum. Er voran, sie hinterher. Gediegenes Aussehen, mittleres, na ja, leicht gehobenes Alter, Sie wie jeden Abend in einem anderem Outfit, gebügelt (haben die ein Bügeleisen im Koffer?), lange Ohrringe, gestylte Frisur, beide braun gebrannter Teint.

Sein strategisch geschulter Blick schweift über den ziemlich gefüllten Speisesaal, um einen den altbekannten Ansprüchen der Ehefrau genehmen Tisch zu ergattern. Da, direkt am Fenster ist ein Prachtstück von gerade frei werdendem Tisch gefunden, er tritt mit verteidigungsbereitem großen Schritt vorwärts, um seiner Gemahlin den erwählten Platz gegen alle möglichen Widersacher zu verteidigen, er dreht sich freudestrahlend um - und sieht seine Angetraute, wie sie sich vom flirtenden spanischen Oberkellner an einen Tisch führen lässt, den sie normalerweise keines Blickes gewürdigt hätte. Er erstarrt im Vorwärtsgang, schaut sie mit großen Augen an, sie schreitet mit errötendem Kleinmädchenblick dem Kellnern nach, um sich von ihm den Stuhl unter den Hintern schieben zu lassen. Er bleibt fassungslos stehen und wartet auf einen Blickkontakt mit seinem Eheweib. Sie weiß darüber genau Bescheid und vermeidet natürlich jeden Blick zu ihrem seines Erfolges beraubten Ritter. Schließlich, nachdem er sich bei seiner Entscheidungsfindung zwischen sofortigem Mord, Schreianfall und tiefem Durchatmen zur sicherlich hotelgeeignetsten Variante durchgerungen hat, geht er langsam wie ein begossener Pudel an den von seiner Gemahlin inthronisierten Tisch und setzt sich mit einer scheinbar lässigen Bewegung. Nicht einmal das Heranschieben des Stuhls unter seine Frau wurde ihm ermöglicht, wo er doch so Wert darauf legte, seine gute Erziehung zum Kavalier anwenden zu können. Wieder schaut er sie an, sie lächelt die Weinkarte an. Ob er ihr die Situation einmal ausführlich, wohlgemerkt aus seiner Sicht, erklären soll?

"Was hast du denn nur wieder, Liebling! Der Kellner war doch so nett!"

"Liebling, willst du uns den schönen Abend verderben?"

"Ich weiß gar nicht wo du hier ein Problem siehst, Liebling!"

Nein, es hätte keinen Wert. Sie würde es nicht verstehen, nicht verstehen wollen, nicht verstehen können.

 

...

"Liebling, warum schaust du so griesgrämig?"